Blogbeitrag

Emotionales Online-Tagebuch wird zum Vermächtnis

Martyna Domel erhält sechs Wochen nach der Geburt ihrer Tochter die Diagnose Blutkrebs und verstirbt nur kurze Zeit später. Sie hat ihrer Familie ein Onlinetagebuch als Vermächtnis hinterlassen, das ihr in Auszügen in diesem Blogbeitrag lesen könnt.

27.05.2021

Was will ich von meinem Selbst auf dieser Welt hinterlassen? Hätte ich so offen über mein Leben geschrieben, wenn ich keine Angst hätte zu sterben? Dieser Blog ist vielleicht nicht so fancy wie die hübsch ausgeschmückten Influencertagebücher. Versteht mich nicht falsch. Klar, auch vor dem Krebs habe ich die schillernden Selbstdarstellungen online immer hinterfragt und hatte trotz der perfekten Welt immer ein gesundes Verhältnis zu mir, meinem Körper und meinem Leben. Ich muss aber zugeben: Auch ich habe es genossen, die schönen Fassaden anzusehen und mich gedankenverloren manchmal treiben lassen.

Martyna vor ihrer Erkrankung

Heute fällt es mir umso schwerer, mich in der Oberflächlichkeit wiederzufinden.

Vielleicht will ich deshalb einen Gegenentwurf zeichnen. Vielleicht habe ich auch einfach ein überdimensioniertes Ego und will in der Zeit, die mir bleibt, meine Wahrheiten mit der Welt teilen. Ich will eine Spur meiner selbst hinterlassen – für Freunde, für meine Familie und für meine Tochter. Falls es doch bald zu Ende geht, werden die Einträge eines Tages weitere Fragmente für ihr großes Mama-Puzzle sein.

Es soll ein Porträt werden – mal abstrakt wie ein Gemälde, mal banal wie ein Selfie. Mal wird die Tiefe bedrückend sein und mir ein Stück von dem Schmerz nehmen und ihn direkt zu euch transportieren. An anderen Tagen werden meine Beiträge leicht sein, und wenn wir Glück haben, wieder ein wenig Humor in unser Leben zurückbringen.

33 Tage Chemotherapie

1 Antikörpertherapie

13 Lumbalpunktionen

12 Mal intrathekale Chemotherapie

12 Knochenmarkpunktionen

3 passende Stammzellspender

1 allogene Stammzelltransplantation

Das ist meine Krankheit ausgedrückt in Zahlen. Wie es sich anfühlt, als vermeintlich kerngesunder Mensch von seiner potenziell tödlichen Krankheit zu erfahren, drücken sie nicht aus. Mir wird oft die Frage gestellt, welche Symptome ich an mir bemerkt habe und wie die Leukämie festgestellt wurde. Heute wird vermutet, dass die Frühgeburt von Mila bereits durch den Krebs ausgelöst wurde. Nach der Entbindung war ich erschöpft, aber noch ziemlich fit. Viele meiner Symptome haben, in Summe betrachtet, auch die Auswirkungen der Geburt und des Wochenbettes sein können.

Sebastian und Martyna war seit 2013 verheiratet

Im Nachhinein frage ich mich, wo mein Instinkt in dieser Zeit war. Was uns letztlich in Alarmbereitschaft versetzt hat, war ein kleiner Knoten am Hals unterhalb von meinem Ohr. Entdeckt habe ich ihn noch vor dem Mutterschutz, als ich im Büro saß. Dieser Knoten und dass ich alles mit einer Sommergrippe entschuldigte, brachte Basti an den Rand des Wahnsinns. Am Montag in seiner letzten Elternzeitwoche hat er darauf bestanden, endlich zur Hausärztin zu fahren. Er wollte unbedingt beim Gespräch dabei sein.

Bereits am Mittwoch, zufällig unserem 11. Jahrestag, rief meine Hausärztin besorgt an. Es war wohl so akut, dass sie selbst vom Labor einen Anruf erhalten hat. Meine Blutwerte waren sehr schlecht, sodass ich mich am nächsten Tag bei einem Hämatologen oder notfalls in einer Rettungsstelle mit angeschlossener Onkologie vorstellen sollte.

Ich war sehr naiv zu denken, dass das nichts zu bedeuten hatte. Ich habe den Gedanken an etwas Ernsteres als einen Infekt so sehr verdrängt, weil mein sechs Wochen altes Frühchen mich brauchte. Es ging einfach nicht. Dabei hat sie das Wort ganz deutlich ausgesprochen: Onkologie.

Am kommenden Tag hat uns ein sehr warmherziger Hämatologe empfangen – ein neuer Kollege in der Gemeinschaftspraxis, die meine Hausärztin empfohlen hat.

Er hat einen Einweisungsschein für mich ausgestellt und ein Bett auf der Onkologiestation der Charité organisiert.

[…]

Ich hatte es schon gespürt, als sie die Tür geöffnet haben. Den Satz begonnen haben sie in etwa mit den Worten: „Es trifft sie jetzt zu einem ungünstigen Zeitpunkt in ihrem Leben, aber …“. Die umfassende Aufklärung zur Therapie wollte ich mir zusammen mit Basti anhören.

Ich habe am Telefon gelogen und ihm erzählt, es gäbe noch keine Neuigkeiten von den Ärzten. Ich hatte schlichtweg Angst, dass er sich nicht mehr aufs Autofahren konzentrieren kann. Ich wollte mich als frisch gebackene Mama morgens schnell beim Arzt checken lassen und bin für viele Wochen nicht nach Hause gekommen. Dass etwas nicht stimmt, wusste ich. Niemals hätte ich aber vermutet, dass ich sterbenskrank bin.

Als Basti gegen 18:00 Uhr angekommen ist, war das Licht im Zimmer Nummer 24 seltsam. Die Jalousien waren bis zur Fensterhälfte runtergelassen und die Sonne schien diffus durch die Lamellen. Basti hat sich dort hingesetzt, wo kurz vorher die Ärzte saßen.

Auf die Frage, ob ich nochmal wegen der Ergebnisse nachgehakt habe, habe ich es ihm erzählt: „Schatz? Ich habe die Ergebnisse schon. Ich habe Leukämie.“

Der Arzt, der uns aufgeklärt hat, ließ keine Zweifel daran, dass mein Zustand lebensbedrohlich sei und wir die Chemotherapie schnell beginnen sollten.

Tochter Mila kam sechs Wochen vor der Diagnose Leukämie auf die Welt

Neue Stammzellen

Sonst ist so ein Isolationszimmer nicht spektakulär: Durch die Schleuse und den leichten Überdruck in meinem Zimmer wird verhindert, dass Luft von draußen eindringt. Das Fester zu öffnen ist nicht erlaubt. Dafür gibt es eine permanente Lüftung, die auch Keime herausfiltern kann. Es wird drei Mal täglich gewischt und nass abgestaubt, und auch das Bett wird täglich neu bezogen und die Matratze desinfiziert. Das gesamte Leben spielt sich in diesen Wochen in den engen vier Wänden ab.

Um das Infektionsrisiko so klein wie möglich zu halten, muss man sich streng keimarm ernähren und darf nicht mal Bücher lesen, die durch zu viele Hände gegangen sind.

Für meine Besucher bedeutet es Folgendes: Wer die Station betritt, muss vorher in einer Umkleide Schuhüberzieher, einen Mundschutz und einen Einwegkittel (unter dem man super schwitzt) anziehen und natürlich die Hände gründlich desinfizieren. Kinder unter 14 Jahren sind nicht erlaubt, und es sollten sich nicht mehr als zwei Besucher gleichzeitig im Raum aufhalten.

Da Mila keinen Kontakt zu Kindern hat, konnte für sie eine Ausnahme gemacht werden, und es wurde sogar ein Babybett von der Kinderstation organisiert. Dafür bin ich den verantwortlichen Ärzten sehr dankbar.

Am 4. Dezember hat schließlich meine Konditionierungstherapie begonnen. Am Anfang ging es mir noch ziemlich gut. Ich weiß nicht genau, an welchem Tag der Chemotherapie es angefangen hat, aber ich habe drei Tage lang nicht richtig geschlafen. Am Anfang lag ich mit geschlossenen Augen da und habe auf den Moment gewartet, in dem sich mein Bewusstsein verabschiedet – vergeblich.

Nach sechs Tagen Chemotherapie und Immunsuppression konnte ich einen Tag lang verschnaufen, bevor ich schließlich am 11. Dezember die neuen Stammzellen erhalten habe. Der Vorgang selbst war bei Weitem nicht so aufregend wie seine Bedeutung für uns: Es wurde ein Beutel angehängt, und die lebensrettende hellrote Flüssigkeit lief über den Venenkatheter wie bei einem Tropf in meinen Körper. Es waren gerade einmal 135 ml, und es dauerte keine halbe Stunde.

Martyna mit Sebastian und Mila

[…]

In der ersten Januarwoche hatte ich bereits genügend weiße Blutkörperchen und musste nicht mehr isoliert werden. Ein paar Tage habe ich dann auf der onkologischen Station im Virchow verbracht, auf der Seite der „freiheitsliebenden Menschen“, wie es eine Schwester charmant ausgedrückt hat. Mein Knochenmark wurde das erste Mal nach der Transplantation kontrolliert, und zu unserer Freude bestand es bereits zu 100 Prozent aus Spenderzellen.

Wir sollten uns ursprünglich auf Ende Januar als Entlassungszeitraum einstellen. Deshalb traf es uns etwas unvorbereitet, als ich bereits am 10. Januar entlassen wurde.

Basti hat im Eiltempo das Haus sicher für Immungeschwächte gemacht. Dazu hat er die Bettwäsche und Handtücher nochmal ausgekocht, alle Vorhänge gewaschen und besonders ordentlich abgestaubt und den Fußboden desinfiziert. Auch die Zimmerpflanzen mussten an einen Ort verbannt werden, an dem ich mich für die nächsten Monate nicht lange aufhalten sollte. Das war nicht so wild. Viel schwerer fiel ihm der Abschied von unserem Hund Romeo. Weil jedes Haustier eine Keimschleuder ist, war er bis Ostern bei meiner Mama untergebracht.

Wir waren erleichtert, freuten uns unheimlich, hatten Angst, waren frustriert, wenn etwas nicht auf Anhieb funktionierte, und gezeichnet von den Strapazen – und das alles auf einmal.

Der große Knall

Die Knochenmarkpunktion fand am Dienstag, dem 5. März, statt. In derselben Woche wollte Basti mit seinem kleinen Bruder zum Konzert gehen. Es war der große Test, ob ich mich gut genug fühle, um allein mit Mila zu Hause bleiben zu können. Tatsächlich ging es mir schon am frühen Morgen nicht besonders gut. Ich war schon am Vorabend überdurchschnittlich müde und hatte seltsame Rückenschmerzen. Als ich am Samstag aufgewacht bin, hatte ich es zuerst an meiner Lippe und Zunge beim Zähneputzen gemerkt. Ich hatte ein leichtes Taubheitsgefühl und konnte meine Zunge nicht richtig rollen und auch meinen Mund nicht ganz schließen.

In der Rettungsstelle der Charité angekommen, musste ich wieder warten. Weil eh nichts Spannendes in den ersten vier Stunden passiert, ist Basti in der Zwischenzeit zum Konzert gefahren und dann wieder in die Rettungsstelle gekommen. Schließlich haben sich mit einem Abstand von mehreren Stunden ein Internist, ein Neurologe und ein Hämatologe meinen Zustand angeschaut, und es wurde zeitnah ein CT gemacht, um eine Blutung oder einen Schlaganfall auszuschließen.

Weil ich nicht zu den akuten Fällen gehörte, konnte das MRT erst für Montag angemeldet werden. Außerdem sollte Nervenwasser mittels einer Lumbalpunktion entnommen werden. Als noch am selben Abend die Laborergebnisse eingetroffen sind, ist unsere Welt aus den Fugen geraten. Es waren nur sechs Zellen im Nervenwasser, und von denen konnten mehr als die Hälfte definitiv als Krebszellen identifiziert werden. […]


Liebste Mila!

Mein liebstes kleines Mädchen. Dass du ein Mädchen geworden bist, hat deinen Papa beim Ultraschall fast in die Knie gezwungen. Ich dachte nicht, dass du unterwegs warst und doch habe ich eines Abends eine unbeschreibliche Wärme in meinem Bauch gespürt. Und dann ist das schönste Mädchen in meinem Bauch größer und größer geworden. Ach, mein kleines Wunder – das bist du wahrhaftig. Nichts in meinem Leben hat mich so verändert wie dein kleiner Herzschlag. Du hast deine Mama zu einem viel besseren Menschen gemacht. Auch für dich werde ich immer da sein, mein Liebling. Wenn der Wind deine Nase kitzelt und sich dein schönes Lächeln in den Pfützen spiegelt, durch die du mit deinem Papa springen wirst.

Der kleinen Familie war nur wenig gemeinsame Zeit vergönnt

Du wirst einmal klug und hübsch sein – ganz egal, was andere sagen werden. Ich wünsche mir, dass du dein Seepferdchen machst und immer gesundes Obst isst. Eines Tages werde ich dir eine neue Mama schicken. Sie wird dich beschützen, wenn du Angst hast, und sie wird dir vorsingen, wenn du nicht schlafen kannst. Sie wird dir eine tolle heiße Schokolade machen und dir eine warme Wanne mit vielen Blubberblasen einlassen, wenn dich der Regen mal erwischt hat.

Du bist ein ganz tapferes Mädchen! Und wenn du Tatuś mal dabei beobachtest, wie sich ein Tränchen in seinen Augen sammelt, musst du ihn daran erinnern: Es ist egal, wo man ist und wie es gerade ist. Hauptsache, ihr zwei seid zusammen. Ihr seid das beste Team, dass ich mir vorstellen kann. Ich wache immer über dich, mein Herzblatt, und passe auf dich auf. Und wenn du abends mit Papa in die Sterne guckst, werde ich dich anzwinkern. Er wird dir alles von mir erzählen, was du wissen musst. Und du wirst Dinge in dir entdecken, die mir ähnlich sind.

Ich trage dich in meinem Herzen, auch wenn du mich nicht sehen kannst. Du musst dich vor nichts fürchten. Sei mutig, meine kleine Erbse. Und sei immer nett zu anderen, auch wenn sie nicht von allen gemocht werden. Du kannst alles werden, wenn du einmal groß bist. Alles, was du dir in deinen Träumen nur ausmalen kannst.

Habe keine Angst vor der Dunkelheit. Die Sonne legt sich einfach schlafen und kommt jeden Morgen wieder – versprochen! Manchmal wirst du traurig sein, und auch ich bin traurig, weil ich dir diesen Brief schreiben muss. Ich hoffe, dass ich ihn dir persönlich vorlese und wir für immer zusammen sein können.

Ich will es dir so sehr versprechen, meine kleine Mila, doch versprechen darf man etwas nur, wenn man sich ganz sicher ist. Deine Mama ist sehr krank und wird alles dafür geben, schnell zu dir zurück zu kommen. Wenn es aber nicht klappt, dann müsst ihr Mama gehen lassen, und du und dein Tatuś müssen sich immer ganz fest drücken, wenn ihr Sehnsucht nach mir habt. Auch wenn ihr mich nicht sehen könnt, werde auch ich Sehnsucht haben und euch dann auch ganz fest drücken. Und wenn ihr die Augen schließt, werdet ihr es spüren. So wie meine Gute-Nacht-Küsschen an jedem Abend.

Sebastian mit einem Bild seiner verstorbenen Frau

Am 10. September 2019 stirbt Martyna mit 26 Jahren und nur neun Tage vor ihrem 27. Geburtstag an Organversagen. Elf Tage später, am 21. September 2019, trägt Sebastian seine große Liebe zu Grabe. Kurz vor ihrem Tod hat Sebastian ihr noch eine wichtige Nachricht überbringen können: Er wird Stammzellen für einen an Blutkrebs erkrankten Menschen spenden. Anfang November 2019 ist es dann soweit: Sebastian spendet in der Charité Stammzellen und schenkt so Hoffnung auf Leben. Seine Geschichte lesen Sie hier.

Über Martyna Domel

Martyna Domel erhält 2018 die Schockdiagnose Blutkrebs – auf den Tag genau sechs Wochen nach der Geburt ihrer Tochter Mila. Die junge Frau nimmt den Kampf gegen die Krankheit auf und beginnt in dieser Zeit, ein berührendes, emotionales Onlinetagebuch zu schreiben. Es wird ihr Vermächtnis an ihre Familie, ihren Mann Sebastian und vor allem an ihre kleine Tochter. 13 Monate lang bietet Martyna der Krankheit die Stirn, neun Monate davon verbringt sie in der Charité und zum Schluss im Virchow-Klinikum in Berlin.

Weitere Möglichkeiten zu helfen
Du kannst die DKMS auf vielfältige Weise unterstützen und damit vielen Blutkrebspatient:innen neue Hoffnung auf Leben geben.