Stammzellspenderin Andrea Sprenger hat ihre Spendergeschichte in einem Kurzroman aufgeschrieben und nimmt die Leser:innen mit auf eine berührende Zeitreise von der Entscheidung zur Typisierung bis zum Kennenlernen mit ihrem „genetischen Zwilling“, mit dem eine ganz besondere Verbindung besteht.
Herzensgeschichte
Das Fazit dieser Geschichte gleich vorweg: Ich habe ein Leben gerettet! Kaum zu glauben. Wer bin ich denn schon? Eine ziemlich durchschnittliche deutsche Frau – ziemlich bedeutungslos für das Weltgeschehen, ausgestattet mit kleinen Neurosen, penibel wie ein Erbsenzähler, ehrgeizig bis in die Haarspitzen, immer skeptisch angesichts der menschlichen Unvernunft, stetig schwankend zwischen selbstsicher und selbstzweifelnd. Und doch lebt ein anderer Mensch nur deshalb weiter, weil es mich gibt.
Ja, ich habe bereits drei Menschen das Leben geschenkt. Aber eigentlich war es purer Egoismus: Mit der Geburt meiner Kinder habe ich mir selbst das größte Geschenk gemacht. Und nun sollte ich nicht nur dafür verantwortlich sein, dass ein anderer, neuer Mensch ein Leben bekommt (der nebenbei bemerkt zur Hälfte so ist wie ich), sondern dass sogar jemand durch mich sein Leben behält – ein Leben, welches er vorher, ganz unabhängig von meinem, schon hatte. Ein Mensch mit einer Mutter und einem Vater. Vielleicht mit Kindern. Ich wusste es zu Beginn nicht. Ich wusste nur, dass ich diejenige war, die die Rettung zum Leben eines anderen in sich trug. Es ist zugegebenermaßen eine kitschige Geschichte, die nicht ohne schmalzige Herz-Schmerz-Worte auskommt. Liebesromane sind gar nichts dagegen! Und obwohl ich in überhaupt gar keiner Weise ein romantisierender Mensch bin, muss ich doch ausnahmsweise mal das Thema Fakten hintenanstellen und den Fokus der Erzählung auf die menschlichen Dinge legen. Denn die Geschichte meiner Knochenmarkspende ist die eindrucksvollste Erfahrung in meinem Leben. Sie hat nicht nur mein Herz bewegt, sondern auch eine neue Freundschaft, prägende Erlebnisse, Glück und Tränen entstehen lassen. Sie hat meinen Horizont erweitert, in jeglichem Sinne. Ich weiß nicht, wie vielen Menschen ich wie oft davon erzählt habe. Wahrscheinlich können einige es schon nicht mehr hören. Mittlerweile kennen bestimmt schätzungsweise 80 % der Einwohner meiner Heimatstadt die Geschichte. Aber egal – ich erzähle es trotzdem gerne immer wieder und wieder. Und nicht nur in meiner Erinnerung hat mich das Erlebnis lange begleitet. Der Kontakt zwischen mir und meinem „Zwilling“ ist über Jahre gewachsen, hat Sprachbarrieren überwunden und psychische wie physische Nähe hervorgebracht, bis zum Ende. Dazu aber später mehr.
Der erste Schritt auf dem Weg war nicht schwierig. Eine Registrierungsaktion der Stammzellspende-Organisation, eine kleine Blutentnahme, ein paar Daten in die Datenbank geben, und schon hatte man das Potenzial, Lebensretter zu werden. Eigentlich so einfach, dass jeder es machen kann. Diese Chance, liebe Leute, würde ich mir nicht entgehen lassen! Statt nun einen flammenden Appell an all die Menschen zu richten, die sich noch nicht bei einer solchen Organisation haben registrieren lassen, erzähle ich einfach meine Herzensgeschichte. Eigentlich sollte allein die Aussicht darauf, etwas ebenso Einzigartiges erleben zu können, Argument genug sein. Der Weg dahin ist nicht so schwer. Sogar ich (!) – siehe Beschreibung am Kapitelanfang – habe das gemacht.
Aufregung
Die Geschichte beginnt 2008. Es war auch ohne weitere Geschehnisse schon eine Zeit voller Umbrüche für mich. Ich war vor einigen Monaten umgezogen – aus meiner Studenten-WG in der Stadt in eine Wohnung zusammen mit meinem Freund im Haus seiner Eltern. Ich war 28 Jahre alt. Seit drei Jahren hatte ich einen festen Job und eine feste Beziehung. Und bald sollte unser Plan, Nachwuchs in die Welt zu setzen, in die Umsetzung gehen. Vorher wollten wir aber nochmal richtig fett Urlaub machen, das unabhängige Leben genießen und die Welt entdecken. Eine Backpacking-Tour durch Australien! Die schönsten Küstenstraßen der Welt befahren, Helikopter fliegen, Kängurus und Koalas streicheln, die Oper in Sydney besuchen – was will man mehr vom Leben? Es sollte die letzte große Reise sein, in der es noch nicht um Spielplätze, Wickelmöglichkeiten, Babybetten in Hotelzimmern und Kinderstühle im Restaurant ging.
Die Vorbereitungen liefen, der Flug war gebucht, die Aufregung stieg. Wir machten Pläne, was wir uns alles anschauen wollten, und waren gespannt auf das, was uns erwartete. Es waren nur noch wenige Wochen, bis es losgehen sollte. Und dann plötzlich, an einem ganz normalen Wochentag, klingelte mein Telefon: eine unbekannte Nummer. Wie immer war ich skeptisch, wenn ich den Anrufer nicht erkannte und nahm mit einem vorsichtigen „Hallo?“ ab. Eine Frau begrüßte mich mit warmer Stimme und stellte sich als Mitarbeiterin der Knochenmarkspende-Organisation vor. Frei heraus eröffnete sie mir direkt, weswegen sie anrief: Ich sei eine mögliche Kandidatin für eine Knochenmarkspende für einen leukämiekranken Patienten! What?? Ich? Ich machte große Augen – was mein Gegenüber am Telefon natürlich nicht sehen, sich aber sicherlich denken konnte. Ich stotterte ein wenig herum. Und während die Dame mir behutsam erklärte, worum es genau ging, lief in meinem Kopf schon der kommende Film ab – allerdings mit vielen Lücken im Drehbuch: Was kommt da auf mich zu? Sollte ich Angst haben? Was war das für eine Person, der ich helfen sollte – und wollte?! Wie aufregend! Langsam schlug die erste Fassungslosigkeit in freudige Aufgeregtheit und Erwartung um.
Nach dem Telefonat setzte ich mich erstmal hin und schaute aus dem Fenster. Aber nicht lange – das war doch mal eine Story, die die ganze Welt um mich herum wissen sollte! Sofort suchte ich im Haus alle, die ich finden konnte, und berichtete von der aufregenden Neuigkeit. Danach schnappte ich mir wieder das Telefon und rief den Rest der (erweiterten) Familie an. Das versprachen ein paar aufregende nächste Wochen zu werden! Die Frau am Telefon hatte mir eindringlich gesagt, dass ich die Entscheidung für eine Zusage zur Spende gut überdenken solle. Denn ein nachträglicher Rückzieher könne für den Patienten dramatisch sein, wenn er oder sie bereits – geistig und/oder körperlich – darauf eingestellt sei, dass die Rettung ganz in der Nähe ist. Aber dass ich spenden würde, war keine Frage. Mit diesem Gedanken, hoffentlich einmal jemandem helfen zu können, hatte ich mich schließlich damals registrieren lassen. Ich hatte allerdings nie zu hoffen gewagt, dass es mal so kommen könnte. Das Wort „Wow“ beherrschte von nun an meine Gedanken.
Weiterlesen können in Andrea Spengers Buch: “Mein Leben in Dir”.